Mittwoch, 8. Dezember 2010

Weihnachtsgeschichten aus der Vergangenheit Teil 2

Eine Weile herrschte tiefes Schweigen im Raum und jeder musterte neugierig und erwartungsvoll die Gegenseite. Es war so ruhig im Zimmer, dass man sogar die Toilettenspüllung drei Etagen über uns Röcheln und Stöhnen hörte.
Die Mutter der beiden Kinder unterbrach endlich diese endlose Stille. 

 „Na dem Weihnachtsmann is sischer gans galt vom Wald draussen. Dor Papa machd ersd ma nen feinen leckren Glühwein un ihr beeden singd ma eier scheenes Liedschen vom Dannebom. Dor Weihnachtsmann freudsch bestimmd och drüber. Gelle Weihnachtsmann?“

Ich hatte gar keine Zeit über dieses unlautere Angebot nachzudenken. Denn schon hielt ich einen halben Eimer einer heissen und stark nach Eigenrezeptur riechenden Mischung in der Hand  und jemand schien hier in meinem Umfeld alle nur quitschenden Schubkarren, Türen und Fensterläden zu bewegen, nur um einen bestimmten Rhythmus in Form eines Weihnachtsliedes zu erreichen. Und das von einem ständigen „Schneuzen“ untermalt.
Es war nicht nur grauenvoll, sondern auch sehr schmerzhaft für die Ohren. Wie es schien nicht nur für die meinigen. Schliesslich hatte selbige Mutter Erbarmen mit mir, wahrscheinlich eher mit sich und ihrem Mann. Jedenfalls lief sie zu ihrem Sohn, um ihn kräftig die Nase zu „polieren“.
 
„Dor gude Weihnachtsmann hörd doch nischt, wenn de immer n Rotz hochziessd…“ und ich nahm erst einmal einen kräftigen Schluck aus dem heiligen Becher ohne Boden.

„Sehr schön“, sah ich mich nun genötigt das Handlungsheft selber in an mich zu nehmen.
„Un nune sachste mir noch vernünftsch n kleenes Weihnachtgedicht of…..“ richtete ich meine wohlgemeinde Aufforderung an die Rotznase. Aber ausser einem langzogenem Schniefen in Richtung oberer Nasenhöhlen war da auch nichts zu machen. Ich versuchte also eine andere Taktik.
„Na da wollen wir doch Mal in meinem grossen schlauen Buch nachschauen, wer von euch beiden dieses Jahr am bravsten war.“
Ich hätte mich für dies ungewollte Aussage am liebsten selber geohrfeigt. „Mal schauen wer am bravsten war.“ So ein Quatsch. Klar war kein Kind das ganze Jahr über brav und artig. Wie auch? Es waren Kinder. Ich fand diese unmögliche Druckausübung des Bravseins schon damals als unwürdig. Wahrscheinlich war, oder konnte ich deswegen auch nie selber richtig brav sein, war wahrscheinlich in all den Jahren auch kein positives Vorbild. Von Familienvater ganz zu schweigen. Ich schlug also den als Weihnachtsmannbuch getarnten Marxisten auf, blätterte ein wenig zielos darin rum, um schliesslich eine Seite des Lederschinkens aufzuschlagen, in der die Jahreskurzvita der beiden exkommunizierten Kinderseelen notiert waren.

„So so. Aaaaha. Mhmmm“, brummelte ich eine Weile in meinen Bart, um die unerträgliche Spannung noch ein wenig zu erhöhen. Schliesslich war ich ja mir selber etwas schuldig, wollte auch das in mir gesetzte Glühweinvertrauen nicht enttäuschen. Und so versuchte ich eine bühnenreife Weihnachtsmannshow hinzuzaubern.
„Also. Wer von euch beiden heisst denn Uwe?“, fragte ich mit sehr verstelltem Akzent. Wobei ich jetzt sogar mit normaler Stimme nach der Abfahrtszeit der nächsten Strassenbahn hätte fragen können und ich deswegen auch keine Antwort bekommen hätte. So wiederholte ich also noch einmal meine Frage. Nur diesmal versuchte ich etwas „freundlicher“ im Ausdruck zu wirken.
„Also wer heisst nun Uwe?“ Zaghaft und noch kleiner werdent kam der Knabe der beiden, mit gesenktem Blick einen Schritt auf mich zu.
„Na da stehen aber ein paar unschöne Sachen hier in meinem…“. Weiter kam ich garnicht. 

Aus dem Kleinem kullerten nun die Trännen in Strömen und er rannte zu seiner Mama, welche in dröstend in den Arm nehmen musste.  Alle Versuche den Kleinen zu beruhigen, selbst von Seiten der Mutter waren zwecklos. Er war nur noch ein kleines, unglückliches Häufchen Elend, welches wahrscheinlich nicht unbedingt Respekt, aber zumindest eine grosse Angst vor mir und der Weihnachtsmannrute hatte. Selbst dem Vater schien es entweder zu berühren, oder gar unangenehm zu sein. Jedenfalls lenkte er nun doch auch ein, indem er das Benehmen des Lieblingskindes im letzten Jahr zu rechtfertigen versuchte. Am Ende war es oftmals der Frau ihre Schuld, das der liebe Knabe sein Gemüse nicht essen wollte, oder gar konnte. Worauf die Mama natürlich es ihrem Sohn gleich tat und ebendfalls anfing ein grosses Taschentuch voll zu schnäutzen.

„Ich wussds doch, dass keener mein Essen mag. Aber deine Muddi kocht ja besser. Gönnt ja zu ihr gehn.“

Und da nun Sohn und Mutter in trauter Gemeinsamkeit um die Wette die Raumluft mit Feuchtigkeit bereicherten, fing  auch gleich die kleine Tochter an zu weinen. Sie stand ganz verlassen vor dem Baum, den Kopf nach unten gesenkt und schluchtzte. Ich konnte noch nie weinende Mädels, oder Frauen sehen. Schon garnicht Kinder. Per Blickkontakt verständigte ich mich mit dem Herrn des Hauses, welcher mir wortlos meinen leeren Becher nachfüllte. Obwohl immer noch sehr heiss, leerte ich ihn in einem Zug, legte  die ganzen Geschenke unter den Baum und machte bevor ich die Wohnungstür von aussen hinter mir schloss, noch wenigstens das Flurlicht aus. Im Gedanken wünschte ich beim runterlaufen der Familie aber noch wenigstens eine stille und heilieg Nacht.

Mein Weg nach unten war zwar nicht unbedingt als lang zu bezeichnen, dauerte aber dennoch länger als beabsichtigte. Schliesslich drückte mir die Blase vom vielen Alkohol und entsprechendes Geschäft bei vollster Dunkelheit draussen vor dem Haus und entsprechender Kälte, dauerte hald seine Zeit. Schliesslich hat ja auch ein Weihnachtsmann nicht nur ein Bedürfnis und das entsprechende Recht, sondern auch die unbequemste Bekleidung, wenn es ums Pinkeln geht. Ausserdem musste ich erst einmal eine Kippe in Ruhe rauchen. Und ein wenig schlecht war mir auch schon. Aber die frische mit Zigarettenduft angereicherte Luft wirkte Wunder und machte mich wieder fit und unternehmungswillig für meinen nächsten Auftritt in der dritten Etage. Diesmal lagen die Familien auf dem selben Flur und hatten jeweils auch nur ein zu beschenkendes Kind zur „Verfügung“. Sollte eigentlich nicht nur schnell, sondern auch einfach über die Bühne gehen.

Als ich endlich zurück im Keller war, erwarteten mich schon zwei ungeduldige Väter. Sie hatten Angst das ich es mir anders überlegt hätte und deswegen mich aus dem Staub machen würde. Die Freude das es nicht so war musste erst einmal mit einem kräftigem Schluck aus einer neu angebrochenen Flasche des „Blindmachers“ begossen werden. Und so dauerte es noch einmal eine gewisse Zeit, bis ich wieder schwer beladen mich auf den Weg der nächsten Wichtelkinder machen konnte. Diesmal waren meine Schritte allerdings etwas schwerfälliger und ich musste wirklich auf jede Stufe besonders aufpassen.

Vor der Wohnungstür der Familie Y im dritten Stock, musste ich erst einmal tief Luft holen und zuviel angereicherte Magenflüssigkeit kräftig nach unten zurück in Richtung Absender schicken. Ich klingelte also.

Eine Frau ca. Ende 20 öffnete mir, um gleich wieder hinter sich die Tür zu schliessen. Es sei ihr wirklich unangenehm flüsterte sie mir zu, aber ob ich nicht zum Schluss vielleicht noch einmal kommen könnte. Der Vater ihrer Tochter sei überraschend gekommen. Und nun gäbe es ein paar Problemchen mit ihrem jetzigem Freund. Es sei ihr wirklich sehr peinlich und so weiter und so weiter.
Natürlich war mir das aussereheliche Verhältniss jener zugegebener massen atraktiven jungen Frau so was von egal, aber als Weihnachtsmann hat man natürlich auch für solche Momente Verständnis. Jedenfalls sagte ich zu, dass ich es in ca. 30 Minuten noch einmal versuchen würde, da ich schon die ganzen Geschenke hier mit durchs Treppenhaus nach oben gebuckelt hatte. Sie bedankte sich mit einem erleichtertem Lächeln und verschwand genauso schnell wieder hinter der Tür, wie sie erschienen war. Bevor ich nun bei den Nachbarn klingeln konnte, hörte ich nur noch ein paar nicht ganz jugendfreie Ausdrücke hinter jener Eingangstür. Schöne Weihnachten dachte ich nur noch.

Bei Familie K. brauchte ich auch nur den Finger ganz kurz auf den Klingelknopf zu drücken und schon wurde mir misstrauisch die Tür geöffnet. Ein älterer Mann stand im Flur und musterte mich von der Stiefelspitze bis zur Weihnachtsmannmütze.

„Stimmt was nicht“, fragte ich nun doch leicht verunsichert.

„Nee nee. Kommse ma rein. Ich bin nur dor Opa. Meine Enkelin is drinnen im Wohnzimmer und wartet schon lange.“

„Tut mir leid, aber bei der Familie unten dauerte es etwas…..“

„Schon gut. Müssen sich nisch entschuldschn. Aber heutzudaache kann mor ja niemanden risch mehr draun. Gehne se ma ruhisch vor. Forne glei lings.“

Er schob mich durch den halbdunklen Flur in Richtung Wohnzimmer und verschloss ganz leise hinter uns die Eingangstür. 

„Ah guck ma Evchen. Dor Weihnachtsmann is doch noch gegommen. Siehste mussd nisch mehr traurisch sein. Warst doch och s ganze Jahr n liebes Mädel.“ Die das sagte, schien nach der Faltentracht an den Händen und im Gesicht, die Oma des kleinen Mädchens zu sein. Allerdings vermisste ich die Eltern des Kindes, denn es befanden sich keine weiteren Personen hier im Raum.

„Otto. Frach doch ma den Weihnachtsmann, obor was zu drinken möschde. Or sieht so durchfrorrn, so risch rod im Gesischd aus. Am besden nen rischn Glühwein.“

Opa Otto zuckelte ab in die kleine Einbauküche, um kurz danach mit einem bis zum Stehkragen dampfendem Behältnis voller Glühwein zu erscheinen, welches er mir vorsichtig überreicht. Die Oma hingegen nahm ihr Enkelin beherzt in den Arm, drückte sie ganz sachte an sich und streichelte ihre Haare. Es war nicht nur ein rührendes Bild, es machte mich heute ein weiteres Mal traurig. Irgend etwas stimmte auch in dieser Familie nicht. Ein kleines Mädchen gehörte an Weihnachten zu ihren Eltern, aber nicht alleine zu den Grosseltern. Die Welt war irgendwie nicht mehr in Ordnung.
Ich nahm vorsichtig einen kleinen Schluck aus dem Pott, wobei ich mir fast die Guschn verbrannt hätte. Jedenfalls nahm der falsche Weihnachtsmannbart erst einmal auch einen kräftigen Schluck von meiner Glühweinportion.

„Meine Mama muss noch bis nach 24 Uhr im Krankenhaus arbeiten“, sagte das kleine Mädchen zu mir, als wenn sie meine Gedanken gelesen hätte.
„Und mein Papa starb vor drei Jahren bei einem schweren Unfall. Deswegen ist meine Oma und mein Opa viel bei mir und sorgen für mich. Mama hat ja leider nicht soviel Zeit. Obwohl sie mir versprochen hatte da zu sein wenn du kommst lieber Weihnachtsmann. Aber sie hat mich lieb. Das weiss ich.“

Bei dieser kleinen Ansprache der noch kleineren Persönlichkeit, wäre mir vor Schreck fast der Trinkbecher aus der Hand gefallen.


An dieser Stelle vielleicht noch ein kleiner Vermerk von meiner Seite. Dies ist eine Episode aus den „Erinnerungen aus dem rotem Meer“. Deswegen auch die entsprechende Überlänge. Kürzen wollte ich sie nicht, weil ich der Meinung bin, dass die Gesamtheit stark darunter leiden würde. Deswegen mache ich für heute auch wieder an dieser Stelle einen Schnitt und werde in den nächsten Tagen zu berichten wissen, wie es in diesem merkwürdigen Haus zu Weihnachten damals weiterging.

In diesem Sinne


robe

6 Kommentare:

  1. Au man wie rührend, da sind schon beim Lesen Tränchen in meinen Augen.
    Du schreibst das wals würde man dabei sein ;-)
    Bin schon wieder gespannt wie es weiter geht ;-)
    Schönen Abend Dir noch

    AntwortenLöschen
  2. So so saufen und kleine Jungs erschrecken kannst du und das auch noch in sächsisch, was ich dir ja schwer übelnehme, aber Übertreibungen machen es wohl anschaulich und färben ab, kicher kicher oder warum nimmst du "drösdent" in den Arm. Gibs zu, du hast auch beim Geschichtenschreiben 10 Liter Glühweinneben dir gehabt....

    Ich freue mich auf die Fortsetzung. Liebe Grüße Shoushou

    AntwortenLöschen
  3. Hallo,
    am lustigsten fand ich den Satz, als du die:

    Toilettenspüllung drei Etagen über uns Röcheln und Stöhnen hörtest...


    Na ja, auch einer Toilettenspülung kann es leicht einmal zu viel werden, und sie hat dann auch das Recht, sich darüber zu beschweren. Hoffentlich hat sie es auf sächsisch getan.

    Ja, lieber Rolf, als Weihnachtsmann, der immer alle kleinen Kinder zum Heulen bringt, kann ich dich dieses Jahr leider nicht engagieren, so leid es mir tut.

    LG

    AntwortenLöschen
  4. Liebe Bianca.

    Manchmal scheint der Schein zu trügen und es steckt viel mehr Wahrheit dahinter als einem lieb sein könnte. Manches liest, oder hört sich so schön und einfach an, aber in Wirklichkeit war vieles anders. Der Mensch neigt auch oftmals dazu, sich nur an gewisse positive Sachen zu erinnern. Um so erschreckender für ihn, wenn dabei auch etwas aus der dunklen "Gegend" gelüftet wir.

    Wünsche dir noch eine schöne "Schokiwoche". ;-)


    LG robe

    AntwortenLöschen
  5. Liebe Shoushou.


    Du hast hier etwas total falsch verstanden. Ich ärgere generell kleine Kinder gerne. Vorallem kleine Mädchen. ;-) Ist wahrscheinlich so ein rudimentäres Stück Vergangenheitsbewältigung von mir. ;-)
    Sächsisch liebe Frau, braucht man nicht zu übertreiben, weil das garnicht geht. Es ist ja auch keine Sprache an sich, sondern mehr ein überzeugender Zustand der sprachlichen Verständigung eines wirklich "lieben" Volksstammes. :) Oh. Ich bin begeistert. Diesen Abschnitt sollte man nach entsprechender Korektur wirklich in den "Sprachduden" aufnehmen. ;-)
    Mein Problem an sich ist die Verschmelzung der beiden Dialekte. Wie schon einmal erwähnt, wuchs ich genau am Randgebiet vom sächsisch und der thüringischen Eigenart "Klösse" zu machen. ;-) Und in genau dieser Grauzone, entwickelte sich im laufe der Zeit wiederum eine andere sprachliche Eigenart, welche von beiden Kaffevölkern profitiert. ;-)
    Ich bin Thüringer, werde aber dennoch sehr oft als Sachse gehalten. Könnte für mich ein kompliment sein. Schlimmer denke ich, wenn man mich mit dem mehr ins nördliche vwerwechseln würde. Das nehme ich dann nicht nur krumm, sondern auch sehr "persönlich". ;-)


    LG robe

    AntwortenLöschen
  6. Hallo Sica.


    Bitte gehe doch nicht so hart mit mir ins Gericht. Ich bin doch am Ende auch noch nur ein Kind. ;-) Vielleicht werde ich es auch bleiben. Mal schauen, was das Leben noch so von mir abverlangt.


    LG robe

    AntwortenLöschen